Surrealismus und Dadaismus

BILDKUNST SURREALISMUS und DADAISMUS Marianne Oesterreicher-Mollwo TABLET ART

Inhalt Cover Titel Bildkunst des 20. Jahrhunderts Farbtafeln und Bildinterpretationen Die Zeitsituation Dadaismus: tabula rasa oder: wie weit trägt der absolute UnSinn? Surrealismus: der Versuch einer kreativen Vermittlung von reiner Subjektivität und allgemeinem Bewusstsein Ziele und Methoden Surrealismus und Wort Surrealismus und Kommunismus Surrealismus und Bild Die Folgen auf der internationalen Kunstszene bis heute Irritation und Faszination – die Reaktion des Betrachters Literaturhinweise Kurzbiografien der vorgestellten Maler Impressum

Autorin und Verlag danken den Museen und Galerien für die Unterstützung bei der Herstellung dieses Bandes.

Bildkunst des 20. Jahrhunderts mit 74 Farbtafeln der Maler Arp Ernst Morandi Blume Fini Oelze Brauer Fuchs Picabia Carrà Hausmann Picasso Chagall Hausner Pollock Chirico, de Hutter Ray Dali Lam Schwitters Delvaux Lehmden Tanguy Dominguez Magritte Tanning Dubuffet Masson Toyen Duchamp Matta Wols Ende Miró Zimmermann

Farbtafeln und Bildinterpretationen

„Statt weiß zu bellen schneit es schwarz Kleine kommen des Weges daher sie wissen nicht ob sie kleine Tiere oder eine Liliputlandschaft sind die Irrländer irren von einer Irredenta zur anderen die Köche liegen keusch geringelt am Boden gackernde Kerne.“ Diese knapp formulierten Zeilen aus der „Irrländer-Konfiguration“ Arps enthalten den ganzen fabulierenden Rätselhumor ihres Autors, der sich selten bei überflüssigen Schnörkeln, seien sie sprachlicher oder bildnerischer Natur aufhielt. Mit einfachen Mitteln gelingen ihm Arrangements, die zwischen Formen oder Wörtern skurrile unterschwellige Beziehungen herstellen oder aufdecken. Der Elsässer Hans (oder Jean) Arp war einer der anregendsten und originellsten Künstler der Moderne. Über seine Bekanntschaft mit Kandinsky stand er eine Zeitlang in Kontakt mit dem Blauen Reiter. Im Ersten Weltkrieg entzog er sich der Einberufung zum deutschen Militär durch schauspielerische Tricks, in denen er so weit ging, vor Psychiatern den Debilen zu spielen. – 1916 gründete er zusammen mit Hugo Ball, Tristan Tzara, Marcel Janco und Richard Huelsenbeck das „Cabaret Voltaire“, dessen künstlerische Hauptfigur er war. Zwischen 1926 und 1930 war er Mitglied der Pariser Surrealisten-Gruppe. Arps Kunst gehört gleichermaßen dem Dadaismus, der Konkreten Kunst und dem Surrealismus an, behauptet jedoch zugleich gegenüber diesen Kunstrichtungen eine durchaus eigenständige Position. – Sein gesamtes Oeuvre, in dem Plastik, Malerei und Lyrik gleichberechtigt nebeneinander stehen, ist Ausdruck seiner Grundüberzeugung, dass Kunst und Natur keine grundsätzlichen Gegensätze sind, dass vielmehr der Künstler ihre gegenseitige Durchdringung anschaulich zu machen habe. Er vergleicht die Kunst mit einer Frucht, die aus dem Künstler herauswachsen müsse. Entsprechend finden wir in seinen Malereien, seinen

Reliefs und seinen Skulpturen vorwiegend Rückgriffe auf „gewachsene“ und organische Formen: Wolken, Berge, Meere, Früchte, Tiere, Menschen. Marcel Janco nannte Arp den „Dichter eines wahren und sinnlichen Mystizismus“ und sein Werk „ein Werk der Engel und des Zufalls“. Der Zufall und das Experiment spielten bei ihm eine wesentliche Rolle, so übernahm er beispielsweise die Formationen von Papierschnitzeln, die er wahllos auf den Boden warf, in seine Arbeiten, die zugleich jedoch stets der Ausdruck eines strengen Formwillens sind. – Erst nach dem Zweiten Weltkrieg gelangte Arp zu internationaler Anerkennung, 1954 erhielt er den großen Skulpturpreis der Biennale von Venedig. Unser Beispiel ist in jeder Hinsicht typisch für Arp: die Entscheidung für einfache, amöbenartige aber klar gegliederte Formen und ein humorvoll-behutsamer Umgang mit den einzelnen Elementen. Blatt- und Pilzartiges, Rüsselhaftes und flatternd bewegtes Menschliches tritt hier so leicht und unverkrampft vereinigt vor uns hin, als sei es geradewegs dem ewig schaffenden Urschlamm entsprungen.

1 Hans Arp Die Tänzerin, 1917 Öl/Lwd., 121 x 109 cm Paris, Privatbesitz Francis Picabia war sein Leben lang eine provokative, nie mit dem Erreichten lange zufriedene, wechselvolle Persönlichkeit, die nicht schulebildend, sondern hauptsächlich als Anreger wirksam wurde. Arp nannte ihn einen „Columbus der Kunst“, der „ohne Kompass“ segelt. Er arbeitete nach dem Grundsatz „ein Künstler

sollte stets nur für sich selbst schaffen, ohne sich um die Wirkung seines Schaffens auf die Kunsthändler, Kritiker und Bewunderer zu kümmern … Ihn erfüllt das wundersame Rätsel des eigenen Ich, er lebt in einer lichtvollen, niemals völlig befriedigten, jeden Tag neuen Introspektion.“ 2 Francis Picabia Maschine schnell drehen, um 1916 – 1918 Gouache auf Pappe, 49 x 32 cm Sammlung Mr and Mrs F. Shore

Er war der Sohn eines kubanischen Vaters, wurde in Paris geboren, wechselte aber ständig Wohnsitz und Freunde; anfänglich versuchte er sich im Impressionismus, malte dann eine Zeitlang kubistisch, 1909 bereits entstand sein Gemälde „Caoutchouc“, das als eines der ersten Zeugnisse einer nichtfigurativen Malerei gilt (das berühmte abstrakte Aquarell Kandinskys stammt aus dem Jahre 1910). Seine Gemälde um 1912 sind deutlich vom italienischen Futurismus beeinflusst. – 1915 trifft er in New York mit Marcel Duchamp zusammen und gründet mit diesem die dortige Dada-Gruppe. Er leistete sich ähnliche, gegen die gängige Auffassung von „Kunst“ gerichtete, provokative Akte wie Duchamp; so setzte er beispielsweise seinen Namen unter einen Tintenklecks und nannte das Ganze „Heilige Jungfrau“. Insgesamt jedoch blieb er spielerischer als Duchamp und gelangte daher auch nicht wie dieser an extreme Endpunkte seiner künstlerischen Entwicklung. Die Jahre von 1915 bis 1919, in denen zahlreiche „ironische Maschinen“ ähnlich den hier abgebildeten entstanden, gelten als Picabias „mechanische Periode“. Picabia feiert die Maschine hier nicht mit dem ernstgemeinten Enthusiasmus der Futuristen, er verwendet ihr Abbild vielmehr, um damit ironisch distanzierte Aussagen zu machen. Mit ihren rhythmischen Bewegungsabläufen, ihren sich einander nähernden und wieder voneinander entfernenden Funktionselementen, wird die Maschine für Picabia zum Symbol der erotischen und sexuellen Beziehungen zwischen Mann und Frau. Das Bild „Machine tournez vite“, das in der Vervielfachung der bewegten Elemente noch dem Futurismus nahesteht, verteilt die Rollen in eindeutig klassifizierender Weise: das große, langsam sich drehende Zentralrad (Nr. 1) = die Frau, das kleine, schnelle Rädchen (Nr. 2) = der Mann. – Die sich in einem perspektivisch verfremdeten Raum abspielende „Liebesparade“ verweist unter Zitierung maschineller Einzelteile eher allgemein auf das

„Gehabe“ von Maschinen, funktionsgerecht konstruiert ist sie, wie die meisten Maschinenbilder Picabias, nicht. Das Geknatter, Geklingel und Gefauche, das man fast unweigerlich assoziiert, lässt bereits an die „kinetischen“ Maschinen Tinguelys denken. Picabia dachte viel über Liebe und Tod nach und fand dafür, vor allem literarisch, durchaus auch zartere Bilder. In einem „Der kalte Blick“ betitelten Text schreibt er einmal „Nach unserem Tode sollte man uns in eine Kugel tun, diese Kugel müsste aus verschiedenfarbigem Holz sein … Man würde uns in ihr auf den Friedhof rollen, und die damit beauftragten Totengräber würden durchsichtige Handschuhe anhaben, um die Liebenden an Zärtlichkeiten zu erinnern.“

3 Francis Picabia Liebesparade, 1917 Öl auf Pappe, 73 x 96 cm Chicago, Sammlung Morton G. Neumann

4 Marcel Duchamp Apolinère enameied, 1916–1917 Karton und bemaltes Reklameschild für Sapolin Emaille, 24,5 x 33,9 cm Philadelphia, Museum of Art Sammlung Louise and Walter Arensberg Marcel Duchamp, der aus einer künstlerisch hochbegabten Familie stammte – drei seiner Geschwister waren bekannte Künstler – war eine der radikalsten und einflussreichsten Persönlichkeiten der modernen Kunstentwicklung. Sein Einfluss lässt sich deutlich bis in die Kunstproduktion unserer Tage verfolgen. Wie viele Maler hatte er zu Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts in Paris mit impressionistischen Landschaften und Porträts begonnen; später beschäftigten ihn Probleme des Kubismus und Futurismus. 1912 entstand die zweite Fassung des berühmten Gemäldes „Akt, eine Treppe hinuntersteigend“, in dem Duchamp

die Phasen eines Bewegungsablaufs mit rhythmisch wiederkehrenden formalen Elementen sichtbar macht. Das Bild löste auf der „Armory Show“ in New York 1913 einen Skandal aus und wurde von den empörten Zuschauern fast zerstört. – Während jedoch der Eindruck dieser „Provokation“ noch vorwiegend auf das hinter der europäischen Kunstentwicklung nachhinkende Bewusstsein des New Yorker Publikums zurückgehen mag, war der Kunstskandal, den die Ausstellung von Duchamps erstem „Ready-Made“, dem auf einen Hocker montierten Rad eines Fahrrads auslöste, bewusst intendiert (vgl. Einleitung). „Ready-Mades“ im Bereich der zweiten Dimension sind auch die beiden auf dieser Seite gezeigten Beispiele. Duchamp bediente sich gerne bereits vorgefertigter Objekte, Reproduktionen etc., die er, einem „Einfall“ entsprechend, nur leicht veränderte; er wollte damit gezielt die traditionelle Auffassung von der Genialität des maltechnischen Könnens und der Einmaligkeit des künstlerischen Produktes ad absurdum führen. „Apolinere enameied“ war ursprünglich die Reklame einer Farbenfirma (Sapolin Enamel), Duchamp veränderte den Wortlaut durch Tilgung und Hinzufügung neuer Buchstaben, so wurde SAPOLIN zu APOLINÈRE, ENAMEL zu ENAMELED. Es entstanden dadurch neue Buchstabenkombinationen, die mehrere Interpretationen erlauben: das erste Wort bezieht sich offensichtlich auf den Dichter Apollinaire; das zweite Wort bedeutet zunächst einmal: mit Lackfarben bemalt; spricht man es französisch aus, legt die Klanggestalt sowohl die Wendung „un homme laid“ (ein hässlicher Mann) wie das Wort „un hommelet“ (ein Männchen) nahe. So gesehen handelt es sich um eine sehr zweideutige Hommage an Apollinaire. Das ein Bettgestell bemalende Mädchen kann im übrigen auch als Anspielung auf den malerischen Akt des „Kunstmalers“ gesehen werden, der – nüchtern, mit Duchamps

Augen betrachtet – auch nichts anderes ist, als das Auftragen von Farbe. L.H.O.O.Q. (auch auszusprechen als Look!) oder „Mona Lisa mit Schnurrbart“ war eine billige Farbreproduktion, die Duchamp mit wenigen Strichen veränderte; Picabia nahm sie als Titelseite in seine Zeitschrift „391“ auf. Es kommt bei dieser künstlerischen Geste weniger auf den keineswegs originellen Einfall an, ein weibliches Gesicht durch einen Schnurrbart männlich zu verfremden, als vielmehr auf den Entschluss, diese Entweihung ausgerechnet an einem der heiligsten Objekte des bürgerlichen Museumsbetriebes vorzunehmen. Die geheimnisvolle Formel L.H.O.O.Q. wurde übrigens auch von Picabia mehrfach auf seinen Gemälden und Manifesten der Zeit um 1920 verwendet. Die „Ready-Mades“, die vielen als ein Endprodukt der Kunst überhaupt erschienen waren, waren Duchamps vorletztes Wort zur Kunst. Er beteiligte sich noch an verschiedenen surrealistischen Ausstellungen mit „Objekten“, so z. B. 1921 mit einem Vogelkäfig, der mit würfelzuckerartig gesägten kleinen Marmorquadern gefüllt war, in denen ein Thermometer steckte. Titel: „Why not sneeze?“ Duchamps bedeutendstes letztes Wort zur Kunst war jedoch das in den Jahren 1915 bis 23 gemalte sogenannte „Große Glas“, mit vollem Titel „La Mariée mise à nu par ses célibataires“. In dieses Werk gingen im Laufe seines jahrelangen Entstehungsprozesses so viele bildnerische (Überlegungen ein, dass es zahlreicher Buchseiten bedürfte, um das Werk selbst nebst allen Vorarbeiten, die in einer gesonderten Mappe erschienen, erschöpfend beschreiben zu können. Duchamp selbst stellte bereits einen zehnseitigen Text zu dem Werk her. Wir beschränken uns hier auf einige Äußerungen Bretons, der der Ansicht war: „Ich behaupte, daß man zur Erkenntnis des objektiv gültigen Werkes von ‚La Mariée mise à nu‘ unbedingt im Besitze eines Ariadne-Fadens sein muß.“ In seinem Aufsatz „Marcel Duchamp, das Leuchtfeuer

La Mariée“ (1934) schreibt Breton: „Eigentlich haben wir es hier mit einer mechanischen und zynischen Interpretation des Liebesphänomens zu tun: der Übergang der Frau von der Jungfräulichkeit zur Nicht-Jungfräulichkeit wird Thema einer durchaus unsentimentalen Spekulation – man könnte meinen, sie stamme von einem außermenschlichen Wesen, das bemüht ist, sich dieses Geschehen vorzustellen.“ Die Form im oberen Teil des Bildes mit den drei „Luftklappen“ repräsentiert die „weibliche Gehenkte“, die zylindrischen Formen darunter sind „neun männische Abdruckformen oder Erosmaschinen oder Junggesellenmaschinen“. Weiterhin wird als „bemerkenswert“ hervorgehoben, dass „die Schokoladenreibe – deren Bajonett als Unterstützung für die Schere dient –, trotz des verhältnismäßig auffallenden Platzes, den sie im Glas einnimmt, vor allem dazu bestimmt ist, die Junggesellen konkret zu bezeichnen, und das unter Anwendung des grundlegenden Spruches der Selbstbestimmung: der Junggeselle reibt seine Schokolade selbst“.

5 Marcel Duchamp L.H.O.O.Q. (oder Mona Lisa mit Schnurrbart) Reproduktion von Leonardos Mona Lisa; Bart und Schnurrbart von Duchamp mit Bleistift hinzugefügt, 19,7 x 12,4 cm New York, Sammlung Mary Sisler

6 Marcel Duchamp La mariée mise à nu par ses célibataires, même (Die Neuvermählte, von ihren Junggesellen entkleidet), genannt „Das große Glas“, 1915–23 Öl, Lack, Bleipapier, Bleidraht, zerbrochene Glasscheiben, 227,5 x 175,5 cm Philadelphia, Museum of Art, Nachlass Katherine S. Dreier Der technisch sehr vielseitige Man Ray gehörte zu jenen Künstlern, denen es gelang, von der dadaistischen zur surrealistischen Szene überzuwechseln. – Er hatte ein Architektur- und Ingenieurstudium abgebrochen, um Malerei zu studieren. Nach anfänglichen fauvistischen und kubistischen Versuchen zeigte sein Malstil zunehmend eine Schematisierung kubistischer Formen in Richtung Abstraktion. 1915 befreundete er sieh mit Marcel Duchamp und begann, Kontakte mit den Dadaisten aufzunehmen. Sein bekanntestes Werk aus jener Zeit ist das aus großen farbigen Flächen und schwingenden

RkJQdWJsaXNoZXIy NTkxOTE=